Die Professur von Professor Hubert Klumpner hat das erste KI-unterstütze 4D-Modell für Sarajevo entworfen. Es berücksichtigt auch die zeitliche Dimension in der Stadtplanung und war die Grundlage für öffentliche Anhörungen. «Um die Komplexität der Stadt abbilden zu können, brauchen wir neue Methoden, Prozesse und Technologien», sagt Klumpner.
«Architektur kann nicht warten», sagt Hubert Klumpner. Der ETH-Professor und sein Team an der Professur für Architektur und Stadtplanung forschen, planen und bauen an Orten, die nach Krisen und Konflikten die Möglichkeit nutzen, sich als Stadt und Gesellschaft neu zu erfinden. In der kolumbianischen Stadt Medellín, die einst zu den gefährlichsten Orten Südamerikas gehörte. In Kigali in Ruanda, wo ein Bürgerkrieg stattfand. Oder in Sarajevo, der Hauptstadt von Bosnien und Herzegowina, die während 1425 Tagen der Belagerung Widerstand leistete. «Wir bearbeiten Real-World-Probleme und erkennen die Chancen an Orten, die ausserhalb der gängigen Debatte um westliche Städte liegen», sagt Klumpner.
Die letzte Version des Masterplans für Sarajevo stammt von 1984, als die Olympischen Winterspiele in der Stadt ausgetragen wurden. Das «Urban Transformation Project Sarajevo» entwirft eine Perspektive für die Entwicklung der Stadt bis 2040. Beteiligt sind zusammen mit der Professur von Klumpner das Laboratory of Energy Conversion von Professor Abhari am D-MAVT, das ETH Spin-off SwissAI, die Universität von Sarajevo, das Planungsamt des Kantons Sarajevo und die Stadt Zürich. Das Projekt ist Teil einer langjährigen Zusammenarbeit mit dem Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, das Forschungsarbeiten von Klumpner in Südamerika, Afrika und seit 2018 auf dem Balkan unterstützt.
Um Sarajevo besser zu verstehen, hat die Professur von Hubert Klumpner unter der Leitung der Forschungsgruppe von Post-Doc Michael Walczak das erste computergestützte 4D Modell für die Stadt und den Kanton Sarajevo entworfen. Es verbindet quantitative und qualitative Daten, um komplexe Planungsentscheidungen treffen zu können. Die Daten für diesen ersten Digital Twin der Stadt haben Forschende in Sarajevo mit einem mobilen Labor namens «Studio Mobil» erhoben.
Das Resultat ist ein «digitales urbanes Imaginarium» der gebauten und natürlichen Umwelt. Es enthält Informationen zur Infrastruktur, Mobilität, Energie, Wasser, Luft- und Bodenqualität, aber auch zum Verhalten der Menschen und zur Demografie. «Um die Komplexität der Stadt abbilden zu können, brauchen wir neue Methoden, Prozesse und Technologien», sagt Klumpner.
«Um die Komplexität der Stadt abbilden zu können, brauchen wir neue Methoden, Prozesse und Technologien.»
Der Digital Twin verbindet verschiedene Massstäbe und berücksichtigt Topografie, Klima, jedes Gebäude und jedes Fahrzeug. Das Modell bildet den Energieverbrauch zu jeder Tages- und Nachtzeit ab, um das Verhalten der Personen in der Stadt darstellen zu können. Sie werden als «agents» im Modell abgebildet mit Hilfe von Machine-Learning Algorithmen. So kann die Simulation nachvollziehen, wie sich einzelne Menschen bewegen, wo sie wohnen, wie sie arbeiten.
Der Digital Twin beinhaltet die gebaute und die natürliche Umwelt, aber auch sozialwissenschaftliche Daten wie etwa die diversen kulturellen, ethnischen und religiösen Prägungen verschiedener Quartiere. Der mehrdimensionale Plan berücksichtigt neben der räumlichen insbesondere die zeitliche Dimension in der Stadtplanung. So lässt sich beispielsweise jede einzelne Sekunde des Verkehrsverhaltens nachvollziehen und in Echtzeit visualisieren.
Die Forschenden vertrauen den digitalen Daten nicht blind, vor Ort wurden die Simulationen überprüft und kalibriert. Das «Studio Mobil» war in den neun Stadtquartieren an strategischen Stellen präsent für öffentliche Anhörungen. Gleichzeitig hat man eine Kartografie der Windbewegungen erstellt und das Verkehrsverhalten aufgezeichnet. So verknüpft die Forschung quantitative und qualitative Daten und ermächtigt die Bevölkerung in dem Prozess. «Wir planen keine smarte City, wir arbeiten mit smarten Leuten an der Zukunft ihrer Stadt», sagt Klumpner.
Bisher wurde die Stadt als lineares Gebilde entlang einer Einbahnstrasse in einem Flusstal gedacht. Der neue Masterplan beschreibt die Stadtentwicklung rund um den Stadtberg als grünes Herz. Er fokussiert auf die Querbeziehungen im Tal und berücksichtigt dabei auch die Hangsiedlungen, wo 40 Prozent der Bevölkerung wohnen. Aktuell gehört Sarajevo zu den zehn Städten weltweit mit der schlechtesten Luftqualität. Der Plan sieht nicht-fossile Energieträger für Transport und Heizung vor. Zudem sollen die Waldflächen geschützt und regeneriert werden, um die Luftqualität in der Stadt zu verbessern.
«Wir planen keine smarte City, wir arbeiten mit smarten Leuten an der Zukunft ihrer Stadt.»
Um alternative Stadtplanungen zu realisieren, verwendet das kantonale Planungsamt den Digital Twin bereits. Das digital Modell ist kein fixer Plan, sondern ein Planungswerkzeug für die Entscheidungsfindung. Es verknüpft diverse Parameter und bildet so die Vielschichtigkeit eines urbanen Gefüges ab. Und mit dem Zwilling können die Planenden Szenarien simulieren und sehen, wie sich zum Beispiel eine neue Strasse auf den Verkehrsfluss oder die Luftqualität auswirkt.
Der Digital Twin war die Grundlage für öffentliche Anhörungen, die in Bosnien und Herzegowina für Planungen gesetzlich vorgeschrieben sind, und die bis Ende April stattfanden. Die Forschenden sprechen von «bottom-up Simulationen». Um den Digital Twin besser zugänglich zu machen, haben sie ein physisches Modell der Stadt gebaut, das mit Projektionen überlagert wird. Ein webbasiertes Modell erlaubte Personen, sich auch aus der Ferne zu beteiligen. Manche Schlüsselorte der Stadt wurden im Massstab 1:1 animiert, um sie anschaulich zu vermitteln.
Die Veranstaltungen fanden in allen neun Stadtgemeinden von Sarajevo statt, ihre Inputs fliessen nun in das Modell ein. Eine begleitende Ausstellung tourt derzeit durch die sechs westlichen Balkanstaaten und wird ab Februar 2025 im Museum für angewandte Kunst in Belgrad zu sehen sein.
1984 fand in Sarajevo die Winterolympiade statt. Von 1992 bis 1995 tobte der Krieg. Heute, fast 30 Jahre später, hat sich die Stadt gewandelt. Ende April waren 18 Bürgermeister aus der Ukraine in Sarajevo zu Gast um sich zu informieren, wie sich eine Stadt nach einem Kriegszustand neu erfinden kann – unterstützt mit neuen digitalen Planungswerkzeugen.
Hack Archthon
Die Learning & Teaching Fair 2024 versammelte 42 innovative Lehrprojekte an der ETH. Dazu gehört auch der «Hack Archthon», den der Lehrstuhl von Hubert Klumper im Frühlingssemester 2024 in Sarajevo veranstaltet hat. Studierende haben eine Woche lang Tools programmiert, um die Daten des Digital-Twin zu visualisieren. Am Ende wurden die Besten mit einer Olympischen Medaille prämiert. Die ETH Zürich hat das Lehrkonzept mit einem Innovedum-Grant gefördert.
NSL Forum & Cycling Research Board
Vom 4. bis 6. September 2024 findet an der ETH Zürich eine Konferenz statt mit dem Titel «Digital Twins for Europe’s Future Mobility». Sie wird organisiert als Kooperation des Netzwerks Stadt und Landschaft zwischen den Professuren von Hubert Klumpner und Kay Axhausen sowie vom E-Bike-City Projekt des Departement Bau, Umwelt und Geomatik.
Das Original dieses Artikels von Andres Herzog erschien in den D-ARCH-News am 03.06.2024