Wir leben und arbeiten in Städten, wir bewegen uns tagtäglich in Städten, wir sind Expertinnen und Experten des städtischen Alltags – und dennoch sind wir nicht darin geübt, das Gesehene und Erlebte analytisch zu durchdringen. Selbst in der Fachwelt von Städtebau und Stadtplanung ist diese Diskrepanz zwischen unserer städtischen Alltagsroutine und ihrer fachlichen Anwendung vorhanden. Zwar verfügen wir über immer leistungsfähigere Technologien, die uns bei der Analyse und Planung komplexer stadträumlicher Zusammenhänge unterstützt, aber den städtischen Raum vor unserer Haustür können wir nur bedingt erklären. Schon in der didaktischen Struktur des Studiums ist diese Diskrepanz veranlagt. Die Studierenden erlernen die theoretischen und entwerferischen Grundlagen des Städtebaus in Entwurfsstudios, Seminarräumen und Hörsälen, nicht aber im städtischen Raum.
Das Urban Research Studio wurde mit dem Anliegen ins Leben gerufen, diese Lücke zu schliessen. Das Projekt fusst auf dem didaktischen Konzept, den städtischen Raum selbst zum Ort des Studiums zu machen. Fernab des universitären Lernumfeldes setzen sich die Studierenden unmittelbar mit den Phänomenen und den Bewohnerinnen und Bewohnern des städtischen Raumes auseinander, sammeln Erfahrungen und persönliche Eindrücke. Ihre Aufgabe ist es, kleine Forschungsaufgaben mittels qualitativer empirischer Untersuchungsmethoden zu lösen. Auf diese Weise üben sich die Studierenden gleich in mehreren Anforderungen, die der Beruf des Städtebauers in Zukunft an sie stellen wird: Sie lernen, ihr alltägliches Umfeld zu lesen und machen sich mit Methoden und Vorgehensweisen der empirischen Stadtforschung vertraut. Sie werten die gewonnenen Informationen aus und eignen sich so theoretisches städtebauliches Wissen an. Und sie üben die Kommunikation mit Anwohnerinnen, Experten und mit ihren Teamkollegen.
Das Urban Research Studio wurde von 2007 bis 2010 vom Fonds für Innovative Lehrprojekte der ETH Zürich (Fonds FILEP, heute INNOVEDUM) gefördert. Dank dieser Förderung konnten Untersuchungen u.a. in Istanbul, London, Moskau und Liechtenstein durchgeführt werden. Zum Abschluss kehrte das Projekt wieder nach Zürich zurück und widmete sich dem Langstrassenqurtier, einem der bekanntesten, aussergewöhnlichsten und umstrittensten Quartieren der Stadt. Ziel war es, die besonderen urbanen Eigenschaften des Quartiers zu identifizieren und zu analysieren. Was sind die besonderen Qualitäten dieses Quartiers? Wie kommen diese Qualitäten zustanden? Und welchen Problemen ist dieses Quartier ausgesetzt?
Um diese Fragen beantworten zu können, führten die Studierenden unterschiedliche Untersuchungen durch, basierend auf Kartierungen, Interviews, Expertengesprächen und persönlichen Beobachtungen. Auf diese Weise entstand eine facettenreiche Momentaufnahme eines vielschichtigen, sensiblen und unter starkem Veränderungsdruck stehenden Quartieres. Die Ergebnisse wurden in einer Publikation dokumentiert und in einer Ausstellung im Architekturforum Zürich der Öffentlichkeit präsentiert. Publikation und Ausstellung zeigten auf anschauliche Art und Weise, wie man Lehre, Forschung und persönliches Engagement miteinander in Verbindung bringt. Vor allem aber zeigen sie eines: wie (lehr-)reich und vielfältig ein scheinbar alltäglicher Ort sein kann, wenn man ihn richtig liest.
Kontakt: Tim Rieniets