Anette Freytag erhält für ihre Dissertation «Natur entwerfen. Zum Werk des Schweizer Landschaftsarchitekten Dieter Kienast (1945-1998)» die Medaille der ETH Zürich für Exzellenz in der Forschung. Die Arbeit leistet die erste umfassende kritische Darstellung von Kienasts Werk und zeigt dessen kulturelle und gesellschaftspolitische Kontexte der 1970er bis 1990er Jahre. Im Interview sprich die Autorin über ihr abgeschlossenes Forschungsprojekt, über «Kasseler Spuren» in Kienasts Schaffen und über Alltagsbewältigung in Form von ästhetischer Erfahrung.
Anette Freytag, herzlichen Glückwunsch zur Medaille der ETH Zürich. Erstmals seit 2001 geht diese Auszeichnung wieder an das Institut für Landschaftsarchitektur. Welche Kriterien waren für die Vergabe des Preises ausschlaggebend?
Ich denke, sowohl der Aufbau als auch die Methodik der Arbeit vertreten einen neuen Ansatz. Es handelt sich um keine klassische Monographie, sondern um eine Annäherung an Kienast in drei Teilen, die der Komplexität seines Schaffens gerecht werden will. Mit Hilfe dreier Fokusse – «Die Natur der Stadt», «Formen der Nutzung» und «Medien der Darstellung» – habe ich verschiedene Aspekte von Kienasts Werk prismenartig beleuchtet, wobei die einzelnen Herangehensweisen chronologisch gegliedert sind und seine Entwicklung von den 1970er bis zu den 1990er Jahren jeweils beleuchten.
Ein anderer Aspekt mag die Relevanz der Arbeit für die Forschung gewesen sein: Anhand von Kienasts Werk lassen sich alle wichtigen Fragestellungen und sämtliche in den vergangenen dreissig Jahren geführten Diskurse über das Gestalten mit Natur studieren. Kienast erhielt Impulse unterschiedlichster Art – aus den Naturwissenschaften, der Architektur, der Kunst, aus Filmen, Musik, Literatur und der Populärkultur. Die aus meiner Forschung gewonnenen Ergebnisse sind daher über die Disziplin der Landschaftsarchitektur hinaus von Interesse.
Inwiefern wird Ihre Arbeit künftigen Forschenden nützen?
Eine wichtige Basis ist die eigens angelegte Datenbank, in der die Dokumente des gegenwärtig dreigeteilten Nachlasses in rund 2000 Datensätzen registriert wurden. Künftige Recherchen werden dadurch erleichtert. Ausserdem gingen aus der Dissertation ein geographisch geordnetes Werkverzeichnis und eine ausführliche Bibliographie hervor, die sämtliche Texte Kienasts auflistet. Diese Quellensicherung war ein wesentlicher und recht aufwendiger Teil meines Forschungsprojekts.
In Ihrer Dissertation wird erstmals Dieter Kienasts Ausbildung in Kassel ausführlich gewürdigt. Was hat Sie an dieser bislang wenig beachteten Phase interessiert bzw. fasziniert?
Ich wollte verstehen, was Kienasts Ausbildung als Pflanzensoziologe mit seinen späteren Werken zu tun hat. Für seine Dissertation zur spontanen Vegetation der Stadt Kassel hat er auf einer Strecke von elf Kilometern drei Jahre lang in Dutzenden von Tabellen «Unkraut» kartiert und so das Vorkommen von Pflanzen und ihre Vergesellschaftung bestimmt. Durch das Verständnis dieser Arbeit konnte ich zeigen, wie Kienast von einem Lesen-lernen der Stadt über die Spuren der Spontanvegetation zu einem gestalterischen Lesbar-machen seiner Arbeiten fand, in welcher dann eine standortgerechte Verwendung von Materialien und eine symbolische Pflanzenverwendung wesentlich wurden. Darüber hinaus fand Kienast durch seine Beschäftigung mit der «Natur der Stadt» zu einer neuen Ästhetik im Gestalten mit Natur.
Ein anderer Aspekt war Kienasts Verhältnis zu den Nutzerinnen und Nutzern seiner Anlagen. An seinen Werken der 1990er Jahre wurde vielfach kritisiert, sie seien zu wenig alltagstauglich und zu sehr auf Form bedacht, während ihm die Mitbestimmung der Bürgerinnen und Bürger zuvor noch ein grosses Anliegen war, dazu zählte z.B. das Entwerfen alternativer Kinderspielplätze. Durch die umfassende Betrachtung seines Schaffens konnte ich herausarbeiten, wie sich Kienasts Verständnis von Alltagsbewältigung nach und nach veränderte. Sah er sie in den frühen Jahren vor allem in der praktischen Nutzung, wird später die kontemplative Nutzung als Form von Alltagsbewältigung und individueller Emanzipation immer wichtiger. Der subjektbezogene Fokus und der Wirkungsanspruch an seine Freiräume blieben dabei konstant.
Was bleibt heute von Kienasts Werk relevant?
Im deutschsprachigen Raum hat Kienast eine ganze Generation von Landschaftsarchitektinnen und Landschaftsarchitekten geprägt. Mich beeindruckt, wie er im Kontext einer sich verändernden Gesellschaft immer neue Lösungen gesucht und gefunden hat, was die Gestaltung von Freiräumen angeht, die lebenswert und zugleich schön sein sollten. In diesem Sinne vertreten Kienasts Arbeiten indirekt auch einen didaktischen Anspruch, indem sie zur Reflexion über das eigene Naturverständnis anregen bzw. in manchen Fällen die Bedingungen für das Gestalten mit Natur in der Stadt bewusst ausstellen. Die unauflösbare Dichotomie von Natürlichkeit und Künstlichkeit in einer landschaftsarchitektonischen Anlage hat er immer wieder zum Thema seiner Gestaltung gemacht.
In der Schweiz haben wir viele Werke in erreichbarer Nähe. Welche Reise würden Sie empfehlen?
Ich schätze besonders die teilweise mit Spontanvegetation gestaltete Aussenanlage der Ecole cantonale de langue française in Bern (Büro Stöckl, Kienast&Koeppel) und den Friedhof Fürstenwald bei Chur (Büro Kienast Vogt Partner), der das Ineinander von Alltagsbewältigung und ästhetischer Erfahrung besonders eindringlich erfahrbar macht. Eindrucksvoll sind auch Kienasts Schweizer Privatgärten, deren Gestaltung zu seinen liebsten Aufgaben zählte. Leider sind diese fast ausschliesslich interessierten Lehrenden und Studierenden zugänglich und im Werkverzeichnis bisher anonymisiert.
Mit Anette Freytag, bis Juni 2012 Stellvertreterin der Professur Girot für Landschaftsarchitektur, sprach Tarek Münch. Die Doktorarbeit wird in überarbeiteter und erweiterter Form als Buch erscheinen, das in Kooperation der Verlage gta und Architectura & Natura (Zürich/Amsterdam 2013) verlegt wird.