Martina Voser ist seit 2021 Gastprofessorin an der ETH Zürich, Ende 2023 wurde sie zur ordentlichen Professorin für Landschaftsarchitektur berufen. Sie spricht von den tiefgreifenden Veränderungen, die der Schweizer Landschaft bevorstehen, und dass ihre Professur zusammen mit der öffentlichen Hand und der Fachwelt die nötigen Transformationsprozesse entwickeln kann.
Was braucht heute die Schweizer Landschaft?
Nur schon die letzten drei Sommer haben gezeigt, wie sehr der beschleunigte Klimawandel einen Einfluss auf das Wasservorkommen in der Schweiz hat: Wir hatten entweder zu viel oder zu wenig Wasser. Die Trockenheit von 2022 und 2023 hat nachhaltige Auswirkungen auf unsere Vegetation, und der heftige Regen dieses Sommers führte zu verheerenden Murgängen und Rutschungen – und trotzdem war der August wieder der heisseste und trockenste je gemessene. Dieses unbeständige hydrologische Regime wird sich in Zukunft noch verstärken, es ist mit chronischem Niederschlagsmangel und gehäuft auftretenden Starkregenereignissen zu rechnen. Auch zeigt es sich, dass aufgrund der zunehmend verdichteten Landschaft die Naturereignisse immer öfters mit dem Lebensraum des Menschen kollidieren. Und da in der Schweiz Wasser und Stein oft als Synonyme auftreten, sind die Auswirkungen besonders fatal.
Aus meiner Sicht stehen wir folglich vor zwei tiefgreifenden Veränderungen: Abgesehen von einigen alpinen Regionen wie dem Wallis oder dem Engadin basiert die Schweiz auf einer Kultur des konstanten übermässigen Wasservorkommens. Hier geht es um das Ableiten des Wassers. Um den Herausforderungen der Zukunft gerecht zu werden, müssen wir in eine Kultur des unsteten und kargen Wasservorkommens übergehen, in der es ums Sammeln und Speichern geht. Dies bedeutet ein Paradigmenwechsel – von der Entwässerung zur Bewässerung, was eine räumliche, strukturelle und typologische Veränderung der Schweizer Landschaft hervorruft.
Des weiteren führen die zunehmenden Amplituden zu immer extremeren räumlichen Situationen mit vielen neuen Zwischenständen und zu immer krasseren Erosions- und Sedimentationsprozessen. Die verlangt nach einem neuen Umgang mit den natürlichen Prozessen und Dynamiken. Wir werden lernen müssen, Räume mit vielen verschiedenen Zwischenständen und temporären Nutzungen zu gestalten und mit diesen Prozessen zu entwerfen. Ein weiterer Paradigmenwechsel: Vom Kontrollieren zum Dirigieren, von monofunktional zugewiesenen Räumen zu multikodierten Landschaftsräumen, die schlussendlich vielschichtige Koexistenzen zulassen.
Eine weitere Herausforderung sehe ich in der Verdichtung: Die Schweizer Landschaft muss immer mehr leisten, sei es wegen Hochwasserschutz, Biodiversitätsförderung, Freizeitnutzungen oder dem Bau neuer Verkehrsinfrastrukturen. Aufgrund der beschränkten Fläche in der Schweiz gerät die Landschaft folglich mehr als anderswo unter Druck. Ich bin daher zutiefst überzeugt, dass wir in Zukunft nicht mehr monofunktional agieren können, sondern integral planen und multikodierte Räume entwerfen müssen. Was wir also aus den städtischen und Agglomerationsräumen kennen, gilt es in die Landschaft hinaus zu tragen – wir brauchen Schwammlandschaften, und integrale Planungsprozesse auch bei Schutzinfrastrukturen. Das Projekt der Schutzbauten in Bondo, das wir im Büro bearbeiten dürfen, ist ein gutes Beispiel, welche vielfältigen Mehrwerte so generiert werden können.
Auf der Suche nach möglichen Zukunftsszenarien hinsichtlich dieses mehrschichtigen kulturellen Paradigmenwechsels, der zu tiefgreifenden strukturellen Veränderungen – räumlich, gesellschaftlich, politisch – in der Schweizer Landschaft führen wird, strebt meine Professur nach einer zentralen Rolle, sodass zusammen mit der öffentlichen Hand und der Fachwelt glaubwürdige Alternativen entwickelt werden können. Zusammen mit den Arbeiten der Studierenden möchten wir uns auf die Suche machen nach neuen Räumen und Bildern sowie neue Typologien (er-)finden, anhand derer Chancen und Risiken diskutiert werden können. Die geforderte Adaption der Landschaft kann so hoffentlich als Potenzial angesehen werden, sodass bis anhin unbekannte Räume und Naturen entstehen. Sollten wir es zudem schaffen, die Anpassung durch Transformationsprozesse vorzunehmen sind wir auf der richtigen Spur. Ich sehe in dieser prozessualen Entwicklung und Adaption unserer Landschaften eine Chance, wir Landschaftsarchitekt:innen können darin eine wichtige Rolle übernehmen, denn das Vermitteln liegt in unserem Beruf: zwischen Massstäben, zwischen den unterschiedlichen Spezialist:innen, zwischen Planenden und Nutzenden und zwischen Geschichte und Zukunft – um gemeinsam durch den Entwurfsprozess zu Lösungen kommen kann.
Welche Botschaften und Themen dürften aus der Schweiz in die Welt verbreitet werden und umgekehrt?
Aufgrund ihrer Grösse und ihrer Orografie kann die Schweiz als ein kondensiertes Labor verstanden werden, wo auf kleinstem Raum viele verschiedene Herausforderungen zusammenkommen: Innerhalb eines einzigen Einzugsgebietes finden wir Ebenen, Steilhänge, urbane oder Agglomerationsräume und sehr ländliche Gebiete. Auch haben wir einen leichten Zugang zu Daten und Grundlagen, ein politisch und administrativ stabiles System – dies hat dazu geführt, dass wir eine sehr hohe, oft beispielhafte Planungs- und Baukultur vorweisen können. Im Hinblick auf die bereits erwähnte Adaption der Planungskultur kann und muss die Schweiz eine Vorreiterrolle übernehmen. Aufgrund ihrer Überschaubarkeit und den Strukturen auf politischer und administrativer Ebene können neue Wege überprüft, diskutiert und konsolidiert werden. Genau wie dies schon mal geschah, als Ingenieur:innen die moderne Schweiz gebaut hatten. Für die Adaption der Schweizer Landschaft können wir nun neue Strategien und Arten der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen allen Akteur:innen im Raum erforschen.
Selbstverständlich können wir viel von anderen Ländern lernen – im Hinblick auf die erwähnten Paradigmenwechsel sollten wir sicherlich Kulturen in ariden oder Monsun-Gebieten studieren. Die Oasen und Wadis lehren uns, wie Sturzfluten zur Wassersammlung dienen können und mit Tau bewässert werden kann. Oder das zurzeit erneut vom Monsun höchst geplagte Bangladesch, wo Schulen schwimmende Schulgärten haben. Aber auch viele Millionenstädte im Ausland zeigen uns, wie wir verstärkt mit Rhythmen und Multikodierung umgehen könnten, so schafft es zum Beispiel São Paolo, jeweils sonntags eine der Hauptverkehrsachsen der Innenstadt zum Flanierraum werden zu lassen.
Inwiefern kannst du von der Nähe zu den NSL Professuren profitieren?
Wir können die zeitgenössischen Herausforderungen nur gemeinsam angehen – integrales Denken, ganzheitliches Handeln und ein vernetztes und interdisziplinäres Arbeiten muss zur Selbstverständlichkeit werden. Das NSL ist die optimale Plattform, über die Grenze von Fachgebiet, Departement und jenseits von Massstäben und Expertisen hinweg zusammenzuarbeiten. Mit meiner Wahl, die Professur im HIL H-Geschoss anzusiedeln, habe ich deshalb bewusst auch die physische, nicht nur die gedankliche Nähe zum NSL gesucht.
Landschaftsarchitektur ist per se ein vermittelnder Beruf – wir sehen das Potenzial im Dazwischen. Oft sind dies Räume, die nicht wahrgenommen werden, geschweige denn Fürsprecher haben – oder sie müssen sich divergierende Partikularinteressen aufnehmen. So stehen die Projekte in unserem Büro oft im Spannungsfeld zwischen Hochwasserschutz und Kulturgut oder zwischen Naturschutz und Nutzungsdruck. Es gilt, all diese Ansprüche in selbstverständliche, qualitätsvoll gestaltete Räume zu übersetzen, die vielfältige Mehrwerte für Mensch, Flora und Fauna bieten. Diese räumliche Komponente wiederum spiegelt sich zurück in die kulturelle und gesellschaftliche Ebene.
Abgesehen vom unglaublichen Privileg, nun dank der Professur mit all den Expert:innen des NSL zusammenarbeiten und von ihnen lernen zu dürfen, sehe ich die Chance nicht nur im selbstverständlichen Leben der Interdisziplinarität. Viel mehr bin ich überzeugt, dass wir gemeinsam die zeitgenössischen Aufgaben gesamtheitlicher angehen und die entsprechenden Planungsprozesse adaptieren können.
Das Entwerfen sehe ich als wunderbares Mittel, um in der Komplexität der heutigen Zeit zu klugen, strategischen und zugleich spezifischen Antworten zu finden. Wir werden uns an der Professur deshalb auch auf die Suche nach Entwurfsmethoden machen, die sowohl die Dimension Zeit von Anfang an mit einbeziehen um so Transformationsprozesse steuern zu können und die iterativ zwischen Digitalem und Haptischem Hin- und Herpendeln. Sicherlich werden wir dabei von der Nähe zum LVML und den Kolleg:innen des D-BAUG profitieren können.
In welchen Landschaften hältst du dich gerne auf und warum?
Die eine Landschaft gibt es nicht, ich kann meiner Leidenschaft dem ‘Landschaft-Lesen’ sowohl in Natur-, Kultur- als auch Stadtlandschaften frönen. Die Suche nach Zusammenhängen, das Interpretieren von Spuren und Transformationen, egal ob natürlich oder kulturell, sind für mich eine grosse Quelle der Inspiration. Aber keine Angst – nebst all dem Analysieren falle auch ich immer wieder gerne in die Kontemplation…
Vielleicht kann man aber schon sagen, dass insbesondere historische Kulturlandschaften eine grosse Faszination auf mich ausüben. So bin ich immer wieder beeindruckt, mit welcher Klugheit unsere Vorfahren die Landschaft gelesen und mit den natürlichen Prozessen gearbeitet haben. Mit den dank der Industrialisierung immer grösser gewordenen, zur Verfügung stehenden technischen Möglichkeiten ist die Subtilität der Eingriffe verloren gegangen. Im Kontext der zeitgenössischen Diskussionen hinsichtlich Umgangs mit Ressourcen ist es sicherlich nicht falsch, von diesen alten Kulturlandschaften zu lernen.
Vielleicht kann man zusammengefasst sagen, dass ich mich am liebsten an jenen Orten aufhalte, mit denen ich Geschichten verbinde – egal ob aufgrund von Erinnerungen oder von Erkundungen.
Interview von Silvia Converso.
Martina Voser (mavo Landschaften gmbh) gilt als eine der anerkanntesten Akteurinnen in der Schweizer Landschaftsarchitekturszene und wurde für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet. Ihre Projekte sind nicht nur konzeptionell fundiert und visuell beeindruckend, sondern auch sozial und ökologisch motiviert. Nebst ihren herausragenden Verdiensten in der Praxis prägt sie seit Jahren den fachlich-theoretischen und berufspolitischen Diskurs massgeblich mit. Martina Voser engagiert sich in der Lehre, ist eine gefragte Jurorin, Kritikerin und Expertin und nimmt Einsitz in verschiedenen Kommissionen und Beratungsgremien.