Der neue NSL-Leiter und Soziologieprofessor Christian Schmid beantwortet unsere Fragen zu den Verflechtungen des globalen Städtebaus, der Umsetzung des Wissens in der Arbeit der Studentinnen und Studenten und der Bedeutung der Soziologie in der Architekturausbildung.
Was ist die Rolle der Soziologie am Departement Architektur?
Die Soziologie hat eine lange Tradition am Departement Architektur. Einer meiner berühmten Vorgänger ist Lucius Burckhardt, der schon in den 1960er Jahren am Departement tätig war und ganze Generationen von Architektinnen und Architekten beeinflusst hat. Heute wie damals geht es darum, das Bauen im gesellschaftlichen Kontext zu verstehen, vom kleinen bis zum grossen Massstab: Wie können wir bauen, damit die Menschen sich entfalten können, welche Bedürfnisse haben unterschiedliche soziale Gruppen, welche Architektur braucht es für ein gutes Leben? Um solche Fragen besser verstehen zu können, braucht es die Soziologie.
Wie vermitteln Sie dies den Studierenden?
Wir zeigen ihnen zum Beispiel, wie sie kurze, zwei- bis dreitägige Forschungen machen können: Mit Bewohnerinnen und Benutzern reden und aus den Alltagserfahrungen lernen; beobachten, wie ein sozialer Raum funktioniert, etwa ein Platz, eine Siedlung oder ein ganzes Quartier; eine Vorstellung von konkreten urbanen Situationen entwickeln; die Qualitäten und Möglichkeiten von bestimmten Orten entdecken. Solche Erkenntnisse kann man sehr wirkungsvoll im Entwurf einsetzen.
Welche Rolle spielt die Stadt in der heutigen Gesellschaft?
Die Frage des Städtischen hat sich in den letzten Jahren deutlich verändert: Urbanes Leben, öffentliche Räume, Kultur, die Nähe zu städtischen Einrichtungen sind heute wichtige Gesichtspunkte bei Standortentscheidungen von Unternehmen und Individuen geworden. Die Nachfrage nach «urbanem Wohnen» hat enorm zugenommen und übersteigt bei weitem das Angebot. Das führt fast zwangsläufig zur Frage, wie sich urbane Qualitäten auch ausserhalb der Innenstädte generieren lassen, und damit zur nicht ganz einfachen Aufgabe, auch in Agglomerationsgebieten «städtisch» zu bauen. In den letzten Jahren hat eine gewisse Ernüchterung eingesetzt, was Raumplanung und Architektur hier leisten können: es geht nicht nur um bauliche Verdichtung und ein «urbanes» Erscheinungsbild, sondern in starkem Masse um den Gebrauchswert, das konkrete Alltagsleben, die tatsächlichen urbanen Qualitäten eines Gebietes.
Was sind heute global gesehen die wichtigsten Herausforderungen?
Die grosse Herausforderung besteht heute in der «planetaren Urbanisierung». Damit wird ausgedrückt, dass Urbanisierung ein weltweites Phänomen geworden ist. Es geht deshalb darum, Urbanisierung als Prozess zu begreifen, der den gesamten Planeten erfasst hat, und auch scheinbar ländliche und «nicht-urbane» Gebiete verändert, z.B. durch grosse Infrastrukturprojekte, durch die Industrialisierung der Landwirtschaft, oder auch durch die schleichende Zersiedelung von entlegeneren Gebieten. Wie wir schon vor zehn Jahren am ETH Studio Basel mit dem Projekt «Die Schweiz: ein Städtebauliches Portrait» gezeigt haben, müssen wir eine umfassende Betrachtung der Veränderungen anstreben und das gesamte Territorium analysieren. Dabei zeigt es sich, dass die Urbanisierung nicht nur zu einer Homogenisierung von Lebensweisen und Siedlungen führt, sondern auch zu neuen Differenzierungen.
Was bedeutet das für die Forschung?
Einerseits hat der grosse Massstab enorm an Bedeutung gewonnen: Die Alltagsmobilität steigt weltweit an, Stadtregionen dehnen sich immer weiter aus, es entstehen riesige Einzugsgebiete mit vielfältigen Verflechtungen. Andererseits ist die internationale Perspektive sehr wichtig geworden: Architektur, Städtebau und Planung werden längst auf globaler Ebene betrieben, die entsprechenden Büros und Unternehmen sind international tätig. Entsprechend müssen wir uns auch mit den unterschiedlichen globalen Entwicklungen beschäftigen und können uns nicht nur auf die Schweiz konzentrieren. Das ETH Future Cities Laboratory in Singapur, an dem ich ebenfalls tätig bin, hat sehr erfolgreich vordemonstriert, was es bedeutet, gemeinsam solche Entwicklungen zu analysieren und zu verstehen versuchen.
Wie sehen Sie die Bedeutung des NSL?
Der grosse Vorteil des NSL ist, dass es eine interdisziplinäre Plattform anbietet und die verschiedenen raumwissenschaftlichen Disziplinen zusammenbringt, wie Architektur, Städtebau, Landschaftsarchitektur, Stadt- und Raumplanung, Verkehrsplanung und Transportsysteme, Stadtgeographie und Soziologie und so eine Gesamtschau ermöglicht, die weit über die einzelnen Disziplinen hinausgeht. Diese Kooperation möchten wir in den nächsten Jahren intensivieren und zugleich auch ausweiten. Es gibt starke Bestrebungen, eine gemeinsame Forschung zu entwickeln, auch im Rahmen eines erneuerten Future Cities Laboratory, das wir in Zukunft auch an der ETH Zürich ansiedeln möchten.