Urbane Qualitäten sind heute in der Schweiz zu einem wichtigen Thema geworden. Fragen der Verdichtung, des Umgangs mit der Zersiedlung, der nachhaltigen Entwicklung, aber auch die steigende Nachfrage nach urbanem Wohnen und Arbeiten haben die Frage aufgeworfen, wie sich heute urbane Quartiere neu bauen lassen. Dabei lässt sich von der Zürcher Langstrassse einiges lernen. Diesen Fragen geht eine Ausstellung im kürzlich eröffneten Zentrum Architektur Zürich (ZAZ) im Museum Bellerive nach.
Die Langstrasse ist ein urbaner Kosmos mit ganz unterschiedlichen Facetten. Bewegt, dicht, unruhig, unberechenbar, war die Langstrasse während Jahrzehnten Symbol für ein «anderes» Zürich. Zusammen mit den umliegenden Kreisen 4 und 5 stand und steht sie für Sexgewerbe, Party, Lärm, zugleich aber auch für soziale und kulturelle Netzwerke, innovative Betriebe und eine lebendige Kulturszene. Mit ihren unverwechselbaren urbanen Qualitäten verkörpert die Langstrasse exemplarisch die Wiederentdeckung des Städtischen und die veränderte Bedeutung des Urbanen in einer globalen Ökonomie. Studierende der Architektur an der ETH Zürich haben im Frühlingssemester 2018 die Langstrasse untersucht, mit Bewohnerinnen und Passanten gesprochen, beobachtet, zugehört, sich mit der Geschichte auseinandergesetzt, fotografiert, Karten gezeichnet, Modelle gebaut und Entwürfe gemacht.
Was sind die Qualitäten der Langstrasse?
Warum wird sie von so vielen unterschiedlichen Menschen geschätzt und immer wieder aufgesucht? Ist es die Romantisierung einer vergangenen Zeit? Wenn wir die Langstrasse genauer betrachten, entdecken wir wichtige Grundprinzipien von urbanen Qualitäten: Es gibt nicht nur unterschiedlichste Menschen, Aktivitäten und Nutzungen an der Langstrasse, sondern es besteht hier auch eine bemerkenswerte raum-zeitliche Ordnung. Dazu gehört eine bestimmte räumliche Szenographie: Entlang der Langstrasse ändert sich das Strassenbild ständig und es ergeben sich immer wieder neue Situationen. Es gibt auch eine typische zeitliche Dramaturgie: Die Langstrasse ist 24 Stunden lang belebt mit unterschiedlichen Rhythmen im Verlaufe des Tages, der Woche, der Jahreszeiten. Daraus entsteht ein grosses urbanes Potenzial, das so verführerisch und anziehend wirkt. Die Arbeit der Studierenden hat einige dieser urbanen Potenziale aufgedeckt: die engmaschige und vielfältige Mischung von unterschiedlichen Menschen und Nutzungen, die sozialen Netzwerke, die Treffpunkte, die kleinteilige bauliche Struktur, die Nebenstrassen und die Innenhöfe.
Die grosse Frage liegt jetzt darin, wie solche Erkenntnisse in Planungen und städtebauliche Entwürfe einfliessen können
Dazu gibt es bereits einige Anregungen und Vorschläge. Einige davon werden in der Ausstellung Nach Zürich: Kontroversen zur Stadt (4.4.19 – 25.8.19, Mittwoch bis Sonntag 14:00 – 18:00) und den begleitenden Veranstaltungen im kürzlich eröffneten Zentrum Architektur Zürich (ZAZ) diskutiert.
Christian Schmid ist Stadtforscher und Titularprofessor für Soziologie am Departement Architektur der ETH Zürich. Er beschäftigt sich mit Theorien der Stadt und des Raumes, der Stadtentwicklung Zürichs, und der internationalen vergleichenden Analyse von Urbanisierungsprozessen.
Weiterführende Informationen
Veranstaltungsflyer zur Ausstellung «Nach Zürich» (PDF)
Publikation Urbane Qualitäten (kostenloser Download)