Prof. em Christophe Girot | Landschaftsarchitektur
Von der Rarität zur Alltagskultur. Der Botanische Garten Zürich und sein Beitrag zur Verbreitung neuer Pflanzen im 19. Jahrhundert
Die Dissertation «Von der Rarität zur Alltagskultur» zeigt auf, wie es dem Botanischen Garten Zürich gelang, in einem Land ohne Häfen, Kolonien und fernab der grossen Gartenbauzentren, durch Handel und Austausch neue Pflanzen einzuführen, in der Gartenkultur zu verbreiten und als aktiver Vermittler zwischen Produzenten und Abnehmern im globalen Pflanzenhandel des 19. Jahrhunderts aufzutreten. Dies erlaubt eine Würdigung der Institution als wichtiges Zentrum für den Pflanzen- und Wissenstransfer im Kontext der aufblühenden bürgerlichen Gartenkultur im Raum Zürich und weit darüber hinaus, wie sie bislang fehlte. Dank der sorgfältigen Auswertung bislang unerforschter Primärquellen wird die Einbindung der Schweiz in die botanischen und gärtnerischen Netzwerke der Zeit erstmals umfassend aufgezeigt und dargestellt, wie das kleine republikanische Land von den umliegenden Grossmächten sowie sich entwickelnden globalen und gesellschaftlichen Strukturen profitierte. Die Doktorarbeit leistet einen Beitrag zum Verständnis von Austauschprozessen in der Geschichte der Landschaftsarchitektur und würdigt eine Epoche, in der die Grundlagen für die heutige Vielfalt an Zierpflanzen aus der ganzen Welt gelegt wurden.
Zu Beginn klärt die Studie die gesellschaftspolitischen Voraussetzungen in der Schweiz, die den Nährboden für das wachsende Interesse an Gärten und neuen Zierpflanzen im 19. Jahrhundert bereiteten. Es wird dargestellt, wie sich die Botanik von der Hilfswissenschaft der Medizin zur eigenen Fachdisziplin entwickelte, wer die treibenden Akteure, was ihre Motive waren und wie sie sich in internationale Netzwerke einbanden. In einem zweiten Schritt werden die Ursachen, Strategien und Praktiken des Pflanzenhandels des Botanischen Gartens Zürich vorgestellt und erläutert, wie er aus der Symbiose von Geschäft und Bildungsanstalt seinen Nutzen zog. Die Entwicklung wird anhand der prägenden Obergärtner Theodor Froebel (1820–1893), Eduard Regel (1815–1892) und Eduard Ortgies (1829–1916) demonstriert. Es wird belegt, worin deren konkrete Kaufmannsarbeit bestand, wie sie bemerkenswerte Kontaktnetzwerke knüpften und den Botanischen Garten eng mit Europa und entfernten Weltgegenden verflochten. Es werden die Schwerpunkte des Handels beschrieben und wie man auf Augenhöhe mit den grossen Handelsgärtnereien im Überseehandel konkurrierte. Hier erklärt sich die zentrale Rolle von Ortgies bei der Einführung gebietsfremder Pflanzen und warum diese in der Geschichtsschreibung bisher keine Beachtung fand. Dass der Botanische Garten sich wesentlich aus im Ausland verkauften Exoten finanzierte, belegen die quantifizierten Pflanzen- und Geldströme.
Im letzten Teil werden die gesellschaftlichen Umbrüche sowie der wirtschaftliche Aufschwung in der Schweiz illustriert und gezeigt, wie die Gartenkultur vom Pflanzen- und Samenhandel des Botanischen Gartens profitierte. Dass eine vielschichtige, aber nur schmale, weitestgehend bürgerliche Gesellschaftsschicht an der Begeisterung für neue Pflanzen partizipierte, dokumentieren die Kundendaten. An ihnen lassen sich die soziale und beachtliche geographische Reichweite des Pflanzenhandels aufzeigen. Kataloge und Lieferungen zeugen von einer ausgesprochen grossen Sortimentsvielfalt. Anhand von repräsentativen Beispielen in den Naturräumen Stadt, Berg und See wird veranschaulicht, wie der Botanische Garten Gartenbesitzer in der Schweiz und in Oberitalien mit fremdländischen Pflanzen versorgte und welche Waren er lieferte. Hierbei wird auf Gehölze fokussiert, da sie in landschaftlichen Gärten eine herausragende Rolle spielen und als einzige materielle Zeugen dieser Epoche überliefert sind. Im abschliessenden Plädoyer wird für die Erhaltung der Pflanzenvielfalt in der Landschaftsarchitektur sowie die Anwendung einer topologischen Perspektive bei der Pflanzenauswahl eingetreten, die sowohl die ästhetische und symbolische Bedeutung eines Ortes sowie sein Erbe und das sinnliche Erleben mitberücksichtigt.
Bild: Johanna und Agostino Garbald in Castasegna gehörten zu den Kunden des Botanischen Garten Zürich. Die Villa Garbald, erbaut von Gottfried Semper, ist heute ein Seminar- und Konferenzzentrum der ETH Zürich. / Kalotypie 1861 @ Staatsarchiv Chur, Fondazione Garbald
Kontakt
Leitung
Prof. Christophe Girot
Korreferent
Prof. Dr. Norbert Kühn, TU Berlin
Finanzierung
Projektförderung durch ein Stipendium des Schweizerischen Nationalfonds, SNF
Publikation
Von San Francisco bis Moskau. Der Botanische Garten Zürich als ein Drehkreuz im globalen Pflanzenhandel des 19. Jahrhunderts, in: NSL Newsletter 48 / Dezember 2020
Projektlaufzeit
2014 – 2020
Status
Abgeschlossene Doktorarbeit