Wie würde London aussehen, wenn kollabroative Schweizer Planungspraxis anstelle von rein investitionslogischen Kriterien angewendet würden? Dieses Gedankenexperiment trieb Simon Kretz, Oberassistent und Dozent am Lehrstuhl für Städtebau und den englischen Architekten David Chipperfield so an, dass sie dazu die Publikation «On Planning – A Thought Experiment» herausgaben. Hier das Interview.
Simon, was war der Grund für dieses Unterfangen?
Der Grund ist die Frustration angesichts der städtebaulichen Entwicklungen in London, die man so ähnlich eigentlich fast überall beobachten kann: Einerseits werden die zentralen Probleme wie beispielsweise die grassierende Wohnungsnot nicht ernsthaft angegangen. Andererseits bestimmt der Landwert sowohl die Dichte wie auch die Gestalt von Quartieren – und nicht umgekehrt. Das Wachstum der Stadt wird dabei von einer Investitionslogik bestimmt, deren gesellschaftlicher Mehrwert zusehends fragwürdig erscheint. Dazu kommt, dass undurchsichtige Deals die Szene beherrschen und die Abschaffung von unabhängigen Expertengremien politische Seilschaften begünstigen. In diesem Kontext vermag zivile Gegenwehr zwar Bauvorhaben zu verzögern, nicht jedoch qualitativ zu verbessern. In der Summe führt dies zunehmend zu Frustration und Resignation, nicht nur seitens Bevölkerung und Planungsbehörden, sondern auch Entwickler und Investoren bemängeln neuerdings fehlende konzeptuelle Klarheit und Planungssicherheit. Dies führt einerseits zu einem konfrontativen politischen Klima, und andererseits werden dabei die Fundamente einer marktliberalen Stadtentwicklungspolitik unterspült. Effizienz, Transparenz, Konsumentennähe und Fairness werden zu leeren ideologischen Tropen. Aus diesen Gründen befindet sich die Planungskultur weltweit in vielen Städten in einer fundamentalen Krise.
Und wozu soll das Gedankenexperiment dienen?
Wir wollten diejenigen Bedingungen herausarbeiten, unter denen ein ideales Stadtentwicklungsprojekt entstehen kann. Und wir wollten zeigen, wie Grossvorhaben einen positiven urbanen Nutzen für die unmittelbare Nachbarschaft und das gesamtstädtische Umfeld haben können.
Wie habt ihr das versucht?
Dies wurde auf zwei Arten versucht: Erstens anhand theoretischer Überlegungen zur Differenz von Urbanisiserung und Urbanität, aufbauend auf den Forschungsergebnissen zu den «Urbanen Qualitäten», die fünf Professuren des NSL im Rahmen des Nationalen Forschungsprojekts NFP 65 erarbeitet haben. Zweitens versuchten wir mit Hilfe eines Fallbeispiels, dem Areal des ehemaligen Güterbahnhofs Bishopsgate in East London, alternative Planungsansätze aufzuzeigen. Dabei haben wir diskursive Methoden der Schweizerischen Planungskultur im konfrontativ geprägten englischen Planungskontext experimentell angewendet und getestet.
Nehmen diskursive Planungen nicht viel mehr Zeit in Anspruch?
Wir haben kollaborativ angelegte Projekte aus der Schweiz mit umstrittenen aus Großbritannien verglichen und fanden heraus, dass die Entwicklungszeit mehr oder weniger die gleiche ist. Wenn man Bishopsgate mit einem der Schweizer Planungskultur abgekupferten Modell angehen und von Anfang an einen Modus festlegen würde, in dem die Stadt, die InvestorInnen und die Bürgerinnen und Bürger ihre Erwartungen einfliessen lassen könnten, käme man genauso schnell zu viel integrativeren Ergebnissen. Dazu bedarf es jedoch Konzepte und Entwürfe, die den Diskurs fördern. Entwürfe also, die Deutung, Interpretation und Manipulation nicht nur als projektiven Selbstzweck, sondern auch als experimentelles Mittel zur Erreichung eines Erkenntnisfortschritts einsetzen. Um das zu testen, haben wir 36 Studierende des D-ARCH einbezogen und sie neun alternative Konzepte im Sinne von Gedankenexperimenten entwickeln lassen. Wir wollten sowohl Probleme und Konflikte wie auch Konsensfiguren und Potentiale auf verschiedenen Ebenen sichtbar und diskutierbar machen. Die Experimente haben uns nicht enttäuscht.
Das Schweizer Planungssystem als exportierbares Modell?
So einfach ist das natürlich nicht, denn jede Kultur hat ihre eigene Pfadabhängigkeit und Eigenheit. Nichts desto trotz sind Planungssysteme ständig im Wandel, und gegenseitiges Abschauen ist traditionell eine der wichtigsten Lernmethoden. In diesem Sinne hat das Schweizer Planungsmodell insbesondere bei Verfahren mit der Notwendigkeit breiter Abstützung, raffinierter Ausgewogenheit verschiedener Interessen und lokaler Zustimmung viel zu bieten.
Gibt es eine allgemeine Aussage, die durch das Experiment sichtbar wird?
Unserer Gesellschaft fehlt oft die Geduld und der Mut, über kollaborative Prozesse zu intelligenten Entscheidungen mit emergenten Qualitäten zu kommen. Deshalb zerfallen Problemkomplexe leider allzu oft in einzelne Probleme, die dann entweder isoliert gelöst oder als Verhandlungsmasse in politischen Aushandlungsprozessen eingesetzt werden. (In diesem Kontext muss angefügt werden, dass dieses Defizit auch nicht durch die schiere Anhäufung von Experten verschiedener Fachbereiche wettgemacht werden kann.) Dabei verkommt Komplexität zu Kompliziertheit. Und Kompliziertheit führt schnell zu Konfusion und Vernebelung, die – wie wir gerade beobachten können – wenigen nützt und vielen schadet.
Das Projekt entstand im Rahmen des achten Zyklus der Rolex Mentor und Meisterschüler Initiative. Die Arbeit wird an der Internationalen Architekturbiennale 2018 in Venedig ausgestellt und ist unter dem Titel «On Planning – A Thought Experiment» im Verlag Walther König in Köln erschienen. Herausgeber sind Simon Kretz und David Chipperfield. Mit Beiträgen von Benno Agreiter, Christian Weyell und dem Lehrstuhl für Entwurf und Städtebau Prof. Kees Christiaanse, D-ARCH, ETH Zürich.